Als 1918 der Erste Weltkrieg verloren beendet wurde, stand Deutschland vor einem gesellschaftlichen Umbruch: der Kaiser musste abdanken, die Weimarer Republik wurde gegründet, wirtschaftliches Elend als Folge des verlorenen Krieges breitete sich aus, die aus dem Krieg oder der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Soldaten und deren Familien bedurften der Betreuung und Beratung. Es ging damals darum, die aus dem Krieg entstandene Not zu lindern. D. h. Verteilung der amerikanischen Liebesgabenpakete an Bedürftige, Empfang und Begrüßung der aus der Gefangenschaft heimkehrenden Soldaten auf den Bahnhöfen, die Verschickung von Kindern zur Erholung nach Dänemark und in die Schweiz, die Durchführung der Winterhilfe und vieles mehr. Aber neben diesen aktuellen Problemen musste auch das gesamte Wohlfahrtswesen neu geordnet und organisiert werden. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründeten konfessionellen Verbände und bürgerlichen Vereine, die die Träger der „freien Liebestätigkeit“ waren, wie damals die Wohlfahrtsarbeit bezeichnet wurde, standen vor kaum lösbaren Aufgaben. In dieser tradierten Form der Wohlfahrtspflege gab es keine ehrenamtlichen Helfer aus der Arbeiterschaft und ein der SPD verbundener Wohlfahrtsverband bestand noch nicht. Dieser, nämlich die Arbeiterwohlfahrt, wurde erst durch Marie Juchacz 1919 gegründet.
Marie Juchacz kannte aus eigener Erfahrung die Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft. Um ihrer durch Krankheit des Vaters und des Bruders in Not geratenen Familie zu helfen, arbeitete sie in einer Fabrik, die Netze herstellte. Es wurde in Tag- und Nachtschichten gearbeitet.
Für die 17-jährige waren vor allem die Nachtschichten eine Qual. So kündigte sie und nahm eine etwas besser bezahlte Stelle in der Landesirrenanstalt als Wärterin an. Auch dort waren die Arbeitsbedingungen äußerst hart: der Dienst ging von 5 Uhr morgens bis abends 21. Uhr. Hinzu kam alle 10 Tage eine Nachtwache. Die Wärterinnen hatten kein eigenes Zimmer, nur ein Bett, das im Schlafsaal der Kranken stand. Sie hatten auch keine Ausbildung für ihre schwere Arbeit. Auch diese Tätigkeit befriedigte Marie Juchacz nicht, sondern im Gegenteil, es stellten sich ihr Fragen nach den Ursachen der psychischen Erkrankungen, für die sie keine Antworten bekam, denn es gab noch keine Ausbildung für diese pflegerische Arbeit. So blieb ihr Bedürfnis, sich zu bilden und zu lernen, unbefriedigt. Sie fand schließlich Kontakt zur sozialdemokratischen Frauenbewegung, besuchte die Leseabende und wurde hier aktiv. Schließlich leitete sie im Vorstand der SPD seit 1916 das Referat „Frauenbewegung und staatsbürgerliche Frauenbildung“. Schon in diesen Jahren hatte sie die Vorstellung, dass aus der sozialdemokratischen Frauenbewegung und der Arbeiterbewegung heraus, ein eigener Wohlfahrtsverband gegründet werden müsste und das auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege Ausbildungsmöglichkeiten auch für Mädchen und Frauen aus der Arbeiterschaft geschaffen werden müssten.
Nach Kriegsende war der Zeitpunkt für die Gründung eines Wohlfahrtsverbandes gekommen. Mit Zustimmung des Parteivorstandes stellte Marie Juchacz auf der Sitzung des Parteiausschusses am 13. Dezember 1919 den Antrag, eine sozialdemokratische Wohlfahrtsorganisation zu gründen. Bei der Wohlfahrtsarbeit der konfessionellen Verbände und der bürgerlichen Frauenvereine waren Vertreterinnen der Sozialdemokratie nicht gern gesehen. Deshalb fehlte es in der sozialdemokratischen Partei an Menschen mit Kenntnissen und Erfahrungen in der sozialen Arbeit. Hierauf spielte Marie Juchacz bei der Erläuterung ihres Antrags an: „Vor dem Krieg war es in unserer Partei nicht in großem Umfang üblich, die Parteigenossen und vor allem die Parteigenossinnen zu irgendwelchen Wohlfahrtsarbeiten hinzuzulassen. … „Dafür haben wir schon früher innerhalb der Organisation versucht, auf unsere Weise praktisch Wohlfahrtsangelegenheiten zu erledigen. Ich erinnere an die Kinderschutzkommissionen, Kinderferienwanderungen usw.. … Mit Kriegsausbruch wurden wir plötzlich umworben. Man brauchte die Mitarbeit der sozialdemokratischen Frauen auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege. Das ist jetzt (gemeint ist nach Kriegsende) noch viel stärker der Fall. … Nun geht mein Vorschlag mit Billigung des Parteivorstandes dahin, daß wir innerhalb der Parteiorganisation eine sozialdemokratische Wohlfahrtspflege konstituieren.“[i] In dieser Sitzung befürwortete u. a. Heinrich Schulz, Staatssekretär beim preußischen Innenministerium diesen Antrag und
sagte: „Das von Genossin Juchacz angeregte Problem verdient ernstliche Beachtung. Wir als Partei haben uns bisher um Wohlfahrtspflege wenig gekümmert.“ Er wies darauf hin, dass künftig der Wohlfahrtspflege eine bedeutende Rolle zukäme, was sich auch daran zeige, dass Preußen nunmehr ein Wohlfahrtsministerium eingerichtet hätte, dem erhebliche Gelder zur Verfügung stünden. Er drückte sein Bedauern darüber aus, dass er aufgrund der Tatsache, dass es keinen mit der Sozialdemokratie verbundenen Wohlfahrtsverband gibt, das für Wohlfahrtszwecke zur Verfügung stehende Geld vor allem den konfessionellen Verbänden, die die meisten Anträge stellen, zuweisen müsse. „Wir müssen deshalb auch aus unserer Mitte eine Organisation schaffen, die dem entspricht, was auf bürgerlicher Seite mit der Bezeichnung „freie Liebestätigkeit“ belegt wird.“ [ii] Auf dieser Sitzung erging auch die Mahnung an die Genossinnen und Genossen, dass sie sich etwas mehr als bisher mit dem Gebiet der Wohlfahrtspflege befassen mögen. Nachdem der Parteiausschuss einstimmig dem Antrag auf Gründung einer Wohlfahrtsorganisation zugestimmt hatte, wurde der Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt ins Leben gerufen.
[i] [i] 1919 – Die Gründung. Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Parteiausschusses der SPD vom 13. Dezember 1919 in Berlin. In: Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. (Hrsg.): Helfen und Gestalten. Bonn 1992, S. 12
[ii] 1919 – Die Gründung. Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Parteiausschusses der SPD vom 13. Dezember 1919 in Berlin. In: Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. (Hrsg.): Helfen und Gestalten. Bonn 1992, S. 13
„Die junge Organisation wurde, wie M. J. berichtete, außerhalb der Arbeiterbewegung mit Neugier, mit Misstrauen und Zweifeln, aber auch mit einigem Wohlwollen und Entgegenkommen aufgenommen. Innerhalb der Arbeiterklasse verhielt man sich zum größten Teil abwartend und zurückhaltend.“ [i]Viele Arbeiter verbanden mit dem Begriff der Wohlfahrt die Vorstellung, dass diese darin bestünde, von oben herab „milde Gaben“ zu verteilen, was ja auch vielfach ihren Erfahrungen entsprach. Gegen diese Voreingenommenheit in den Reihen der Arbeiterschaft musste der neue Wohlfahrtsverband ankämpfen. Ein weiterer Vorbehalt gründete in der Befürchtung, dass durch ihn die Frauenbewegung geschwächt würde, weil man davon ausging, dass sich Frauen verstärkt der sozialen Arbeit zuwenden würden.
Entgegen traditionellen und weit verbreiteten Auffassungen, wonach Armut als individuell verschuldet angesehen wurde, vertrat die Arbeiterwohlfahrt von Anfang an die Auffassung, dass es strukturelle Ursachen für die gestiegene Zahl von bedürftigen Menschen gäbe und – um noch einmal Marie Juchacz zu zitieren - dass der Staat die Pflicht habe, „die durch die kapitalistische Gesellschaftsordnung herbeigeführte, durch den Krieg und seine Folgen verschärfte Not, soweit dies möglich ist, abzustellen, zumindest aber zu lindern. Aus ihrem demokratischen Gefühl heraus hielten es die Vertreter der Arbeiterwohlfahrt für ihre Pflicht, ihre Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen.“ [ii]
Nachdem in den ersten fünf Jahre nach der Gründung der Aufbau der Organisation erfolgt war und die aus den Kriegsfolgen entstandene Not gelindert werden konnte, traten die unmittelbaren Hilfsaktionen für Bedürftige in den Hintergrund und das Spektrum der Maßnahmen erweiterte sich. So entwickelte die Arbeiterwohlfahrt zwischen 1924 und 1929 ihr modernes Konzept der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Sie betätigte sich in den allgemeinen Bereichen der Kinder-, Jugend und Altenfürsorge, der ambulanten Hauspflege, unterhielt Erziehungs- und Erholungsheime sowie Kindergärten.
1926 wurde die Arbeiterwohlfahrt als Reichsspitzenverband freier Wohlfahrtspflege anerkannt. Damit verband sich die Chance, durch Eingaben, Gutachten und Denkschriften bei Behörden und Ministerien Einfluss auf die Richtlinien und die Sozialgesetzgebung zu nehmen. Da für die vielfältigen Aufgaben jedoch die Mitglieder noch nicht über ausreichende Erfahrungen und Kenntnisse verfügten, wurde den Fortbildungsmaßnahmen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Es wurden eine Schriftenreihe mit Ausbildungsmaterial und die Fachzeitschrift die „Arbeiterwohlfahrt“ herausgegeben.
Fort- und Weiterbildung allein genügten nicht, man benötigte auch Mitarbeiter mit einer beruflichen Ausbildung zum Fürsorger bzw. zur Fürsorgerin, die jedoch fehlten. Die Ursache lag darin, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überwiegend aus der Arbeiterschaft stammten und ihnen der Besuch der Wohlfahrtsschulen und der sozialen Frauenschulen aus finanziellen Gründen nicht möglich war und dass ihnen auch die geforderten Bildungsvoraussetzungen, ein mittlerer Schulabschluss, fehlten. Um dem Mangel an geeigneten Mitarbeiterinnen abzuhelfen, wurden an den sozialen Frauenschulen Sonderlehrgänge durchgeführt. Hierdurch wurden bis 1924 insgesamt 156 Fürsorgerinnen mit Unterstützung der Arbeiterwohlfahrt ausgebildet. Für junge Männer wurde an der Hochschule für Politik in Berlin ein Kurs für Jugendwohlfahrt angeboten, an denen 42 junge Genossen teilnahmen.
Da diese Sonderlehrgänge, die von den Schülerinnen und den Veranstaltern als unbefriedigend empfunden wurde, nicht die volle Ausbildung ersetzen konnten, gründete 1929 schließlich die Arbeiterwohlfahrt in Berlin eine eigene Wohlfahrtsschule mit dem staatlich anerkannten Abschluss des Wohlfahrtspflegers.
Wie wurden nun die Maßnahmen in der sozialen Arbeit und die Ausbildungs- und Fortbildungsangebote finanziert?
Die Arbeiterwohlfahrt erhielt wie alle anderen Wohlfahrtsverbände finanzielle Förderung von staatlichen und kommunalen Instanzen, die aber zur damaligen Zeit recht bescheiden war. Der weitaus größten Teil ihrer Mittel kam aus den Reihen der Arbeiterbewegung.
Mitglieder verkauften Arbeiter-Wohlfahrtsmarken
Ab 1925 gab es jährlich eine Lotterie
Es wurden regelmäßig Sammlungen durchgeführt
Ortsausschüsse, die sich den Vereinsstatus gegeben hatten, erhoben feste Mitgliedsbeiträge
Gelegentlich erhielt die AWO auch Zuschüsse von der SPD oder den Gewerkschaften.
[i] Die ersten fünf Jahre. Aus Beiträgen von Marie Juchacz in „Die Arbeiterwohlfahrt“. In: Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. (Hrsg.): Helfen und Gestalten. Bonn 1992, S. 19
[ii] Die ersten fünf Jahre. Aus Beiträgen von Marie Juchacz in „Die Arbeiterwohlfahrt“. In: Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. (Hrsg.): Helfen und Gestalten. Bonn 1992, S. 19
Diese positive Entwicklung in den 10 Jahren ihres Bestehens kam durch die Weltwirtschaftskrise 1929 zum Stillstand. Die immens gestiegene Zahl von Arbeitslosen und Bedürftigen haben die Kommunen gezwungen, starke Kürzungen der Wohlfahrtsleistungen vorzunehmen, von denen auch die AWO betroffen war. Der Personalabbau im Fürsorgewesen, gegen den die AWO protestierte, verschärfte die Notlagen der Betroffenen. Aufgrund der wirtschaftlichen Not musste man 1930 wieder zu den Hilfsmaßnahmen der Anfangsjahre zurückkehren: es gab wieder eine Winterhilfe, und es wurden in großem Maßstab Lebensmittel- und Kleidersammlungen durchgeführt. Des weiteren gab es Lehrgänge für Mädchen in den Nähstuben und für Jungen in den Werkstätten, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen.
Trotz der Sparmaßnahmen hat die Arbeiterwohlfahrt auch in diesen schweren Zeiten ihr eigenes Programm fortgeführt: Die neu gegründete Wohlfahrtsschule und die Fortbildungskurse für ehrenamtliche Mitarbeiter wurden weiter betrieben. Dass der Gedanke der solidarischen Hilfe in der Arbeiterschaft sehr lebendig war, zeigte sich daran, dass in den Jahren der größten Not, von 1930 bis 1932, die Zahl der ehrenamtlichen Mitarbeiter von 114.000 auf 135.000 gestiegen ist. Vor welchen schwierigen Aufgaben die vielen ehrenamtlichen Helferinnen, standen, wird aus dem folgenden Bericht deutlich:
„In so manchem Haushalt sahen wir mit kühlem Blick, daß hier das Elend aus Mangel an gegenseitigem Verständnis, aus Unkenntnis der Haushaltsführung, Unfähigkeit der Kindererziehung, Mißbrauch des Alkohols und anderen Dingen herrührte. In vorsichtiger, liebevoller Bemühung ist es uns gelungen, wieder den Weg zu Frieden und Ordnung in den Familien zu bahnen, ist es uns gelungen, Männer und Frauen, die arbeitsscheu waren oder durch zu lange Arbeitslosigkeit vom Wege der Tätigkeit abgekommen waren, wieder zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft zu machen.“[i]
[i] Holthuis, Rainer E.: Zur Entwicklungsgeschichte der Arbeiterwohlfahrt ab 1919. In: Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. (Hrsg.): Helfen und Gestalten. Bonn 1992, S. 36
Mit der Machtergreifung durch Hitler 1933 setzte die Verfolgung der politischen Linken und ihrer Organisationen ein. Nun kam zu den sonstigen Aufgaben der Nothilfe noch die Verpflichtung, sich um die Familien der Inhaftierten, der Erschlagenen und Emigrierten zu kümmern.
Aber auch die Arbeiterwohlfahrt selbst gehörte zu den unliebsamen Organisationen und bekam dies schon bald zu spüren.
Am 5. Mai wurde das als fortschrittlich geltende „Jugendheim Immenhof“ aufgelöst und verboten.
Eine Woche später, am 12. Mai, musste die Geschäftsführerin Lotte Lemke das Haus verlassen und ein Beauftragter der Arbeitsfront übernahm die Leitung der Arbeiterwohlfahrt. Überall im Land vollzog sich das gleiche: die Geschäftsstellen wurden besetzt, vielfach wurden die Verantwortlichen verhaftet, die Bankkonten beschlagnahmt und die Heime und Einrichtungen der Arbeiterwohlfahrt wurden von der „Deutschen Arbeitsfront“ in Besitz genommen.
Die „Deutsche Arbeitsfront“ unternahm den Versuch, die Arbeiterwohlfahrt „gleichzuschalten“, sie in die „nationale Front“ einzugliedern. Diese Absicht ließ sich nicht verwirklichen „weil niemand mitmachte. Die Verantwortlichen auf allen Ebenen und die 135.000 ehrenamtlichen Mitarbeiter versagten sich jedem Versuch der Gleichschaltung. Der Beauftragte der Deutschen Arbeitsfront griff ins Leere. Die Arbeiterwohlfahrt als Organisation existierte nicht mehr.“[i]
Vorsorglich hatte die AWO bereits im Februar 1933 Vorbereitungen für die Illegalität getroffen. Als Tarnorganisation wurde das „Deutsch-ausländische Jugendwerk“ gegründet, für das die Schwedin Elsa Brandström, die aufgrund ihres Einsatzes für deutsche Kriegsgefangene hohes Ansehen genoss, als Vorsitzende gewonnen wurde. Frau de Morsier von der „Union Internationale des Enfants“ in Genf wurde zweite Vorsitzende. Durch diese beiden Namen war diese Tarnorganisation zunächst vor den Nationalsozialisten geschützt.
Unter dieser Tarnorganisation wurden nunmehr die Hilfsmaßnahmen durchgeführt: Weihnachten 1933 wurden mehrere hundert Pakete an die Familien von Verfolgten geschickt; es wurden Erholungsaufenthalte für Haftentlassene durchgeführt und in Berlin-Reinickendorf bestand noch bis Ende 1935 ein Kindergarten, der fast ausschließlich von jüdischen Kindern besucht wurde. Das „Deutsch-ausländische Jugendwerk“ wurde von englischen Quäkern, die in Deutschland arbeiteten, unterstützt, wodurch die finanziellen Mittel aufgebessert wurden. Dennoch ging 1936 das Geld zu Ende und auch diese Organisation hörte zu Bestehen auf.
Führende Mitglieder Arbeiterwohlfahrt mussten emigrieren, wie z. B. Marie Juchacz, Prof. Dr. Walter Friedländer, Dr. Helene Simon und Hedwig Wachenheim.
Lotte Lemke, die spätere Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt hingegen blieb in Deutschland, obgleich sie von der Gestapo gesucht und auch zeitweilig in Haft war. Gemeinsam mit Kurt Schumacher, Fritz Erler und Alfred Nau bildete sie eine Widerstandsgruppe.
Rückblickend auf diese Jahre sagte Lotte Lemke: „Die schmerzliche Unterbrechung der Entwicklung, welche die Arbeiterwohlfahrt erfuhr, als sie 1933 verboten wurde, der menschliche, geistige und materielle Substanzverlust durch Unterdrückung, Verfolgung und Beraubung, machten sich bei der Wiederaufnahme der Arbeit nach dem Zusammenbruch natürlich bemerkbar.“[ii]
[i] Aus der Chronik der Arbeiterwohlfahrt. A. a. O., S. 50
[ii] Lemke, L.; Humanitäres Handeln aus politischer Verantwortung. 1953: Auszug aus dem Referat auf der Reichskonferenz in Berlin. a. a. O., S. 69
Als Deutschland am 8. Mai 1945 durch die alliierten Truppen von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft befreit wurde, lag alles in Trümmern, und wieder, wie nach dem Ersten Weltkrieg, galt es, unvorstellbare Not zu lindern. In dem Geschäftsbericht der Arbeiterwohlfahrt von 1949 heißt es über die Anfangssituation: „Es war ergreifend und unendlich ermutigend, wie an allen Orten Ansätze entstanden, die alten Arbeiterorganisationen wieder ins Leben zu rufen. Auch für die Arbeiterwohlfahrt regten sich solche Kräfte. Von der vorher so bedeutenden Organisation mit ihren schönen Einrichtungen war nichts weiter übrig geblieben, als der gute Wille und die Erfahrungen einiger weniger Menschen, die mutig die Arbeit wieder aufnahmen. In dieser Anfangssituation, die gekennzeichnet war durch den nicht versiegenden Flüchtlingsstrom, durch das Heer der zurückkommenden Kriegsteilnehmer und die Schaaren der auf der Landstraße umherirrenden Jugendlichen, war der Kampf zu führen um Obdach, Kleidung und Hausrat für die Flüchtlinge, Evakuierten und Ausgebombten. ….vor allem aber brauchten die Kinder Hilfe, die der Nahrungsnot und allen anderen Folgeerscheinungen des verlorenen Krieges am stärksten ausgesetzt waren und diesen Gefahren am wenigsten Widerstand entgegenzusetzen hatten. Geholfen werden musste auch der elternlosen Jugend, die heimatlos, obdachlos über die Landstraßen zog, gefährdet und andere gefährdend. Nicht zuletzt brauchten Hilfe auch die Alten.“ [1]
Der Wiederaufbau der Arbeiterwohlfahrt begann auf der örtlichen Ebene. In Kronberg haben 26 Männer und Frauen aus Oberhöchstadt und aus Kronberg, darunter auch Peter und Auguste Sattler, Peter Strabel sowie der Bürgermeister Adam Zubrod und seine Frau Sophie, den Ortsverein der Arbeiterwohlfahrt am 1. Januar 1946 gegründet. Es war überwiegend der gleiche Kreis, der kurz zuvor auch den Ortsverein der SPD wieder ins Leben gerufen hat. 25 Jahre später, 1971, hieß es in einem kurzen Rückblick: „Nun wurde die Sozialarbeit nach den Richtlinien der Arbeiterwohlfahrt aufgenommen. Den Mittellosen wurden Barzuwendungen und Gutscheine für Lebensmittel überreicht, für die Obdachlosen wurden Wäsche, Kleider, Schuhe, Öfen, Herde, Ofenrohre, Möbel und sonstiger Hausrat zusammengetragen. Sehr oft konnte für eine ganze Familie nur ein leeres Zimmer zur Verfügung gestellt werden. Weihnachtsfeiern wurden ausgerichtet und die Bedürftigen beschenkt und bewirtet. Maskenbälle wurden abgehalten und der Erlös zum Helfen verwendet. Müttern, Kindern, alten und kranken Mitbürgern wurde Genesung und Erholung in den Heimen der Arbeiterwohlfahrt ermöglicht. Die Altenbetreuung ist immer noch die vornehmste Aufgabe des Ortsvereins.“[2] So wie in Kronberg wurde in vielen Orten die Arbeiterwohlfahrt wieder gegründet. Aufgrund der höchst unzulänglichen Verkehrsmöglichkeiten hatten jedoch die einzelnen Ortsgruppen kaum Verbindung miteinander. Erst allmählich bildeten sich wieder Kreis- und Bezirksausschüsse. Anfang 1946 hat sich dann auch der Hauptausschuss wieder gebildet, der die verschiedenen Aktivitäten auf den unteren Ebenen zusammenfasste und koordinierte. Dabei waren die Bedingungen für den Aufbau einer zentralen Organisation höchst ungünstig. Es fehlte an allem, was für eine Organisation wichtig ist. Papier war knapp und Telefone gab es ebenfalls kaum. Auch die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen erschwerte das Zusammentreffen. Vor allem fehlte es an geeigneten Menschen für die Arbeit in den Beratungsstellen, den Volksküchen, Nähstuben und Flüchtlingsunterkünften. Unter diesen schwierigen Umständen sind die Erfolge der ersten vier Jahre – von 1945 bis 1949 – zu würdigen:
Am 31. März 1949 gab es bereits wieder 5000 Ortsausschüsse, 50.000 ehrenamtliche Helfer und Helferinnen und 300.000 Mitglieder. In Südhessen waren es 546 Ortsausschüsse, 4500 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sowie 54.624 Freunde und Förderer.
Zu den allgemeinen Wohlfahrtsarbeiten, die ständig zu leisten waren, kamen immer wieder zusätzliche Aufgaben auf Bundesebene aufgrund politischer Entwicklungen hinzu. Als Anfang der 50er Jahre viele Bundesbürger auswandern wollten, errichtete der Bundesausschuss 1952 eine Auswandererberatungsstelle, und für die Flüchtlinge aus der DDR koordinierte er deren Aufnahme und Betreuung in den Einrichtungen der Arbeiterwohlfahrt, die hierfür von den Gliederungen bereitgestellt wurden. Mit dem Bau der Mauer 1961 hat sich Zahl der Flüchtlinge drastisch erhöht, so dass zur Betreuung und Beratung zusätzliches Personal eingestellt werden musste. Auch aus anderen Ländern mussten Menschen fliehen und bedurften der Hilfe, wie z. B. die 15.000 algerischen Flüchtlingskinder, die mit Winterkleidung versorgt werden mussten.
Eine besondere Herausforderung war die Hilfe in Ungarn 1956 während des Befreiungskampfes. In Zusammenarbeit mit der österreichischen „Volkshilfe“ wurden Medikamente, Lebensmittel und Kleidung in einem Konvoi von 32 Lastwagen der Volkshilfe in das noch brennende Budapest gebracht.
Ein weiteres Aufgabengebiet entstand Anfang der 60er Jahre durch die ersten nach Deutschland kommenden sog. „Gastarbeiter“. Inzwischen ist die Arbeit mit Migranten und Familien mit Migrationshintergrund ein wichtiger Schwerpunkt geworden.
Ab 1960 engagiert sich die Arbeiterwohlfahrt auch in der Entwicklungshilfe u. a. für Indien, wo sie kontinuierlich tätig war. Auch bei Naturkatastrophen ist die Hilfe der Arbeiterwohlfahrt immer wieder gefragt.
Diese Liste ließe sich noch verlängern, aber die hier genannten Beispiele mögen genügen.
Anders als in Westdeutschland konnte in der DDR die Arbeiterwohlfahrt nicht wieder gegründet werden. Sie hatte nur einige Büros in Ostberlin, die jedoch mit dem Bau der Mauer 1961 durch die Behörden zwangsweise geschlossen wurden. Erst nach dem Fall der Mauer und der darauf folgenden Wiedervereinigung wurden auch in den neuen Bundesländern Orts- , Kreis- und Bezirksausschüsse gegründet.
Der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt ist ein Dachverband und seine primäre Aufgabe ist nicht die soziale Arbeit vor Ort, sondern sein Gebiet liegt vor allem in der fachpolitischen Arbeit, in der Unterstützung der Arbeit auf Bezirks-, Kreis- und Ortsebene durch Bereitstellung von Informationen und Angebote zur Fort- und Weiterbildung.
Ein weiteres Gebiet ist die Mitwirkung bei der Beratung sozialpolitischer Gesetzesvorhaben. Es wurden zu verschiedenen Gesetzesvorhaben Kommissionen gebildet, die dem Gesetzgeber in Gutachten und Denkschriften Vorschläge für die Reformen unterbreitet haben. Dabei wurden Vorschläge u. a. zu folgenden Gesetzesvorhaben entwickelt:
Es wurden Vorschläge zum Vormundschaftswesen und zur Neugestaltung des Unehelichenrechts erarbeitet. Eine weitere Kommission erarbeitete Reformvorschläge zum Jugendstrafrecht. Die Kommission war von der Schädlichkeit der Jugendgefängnisse überzeugt und forderte daher in der 1970 vorgelegten „Denkschrift für ein erweitertes Jugendhilferecht“, dass an die Stelle von Freiheitsstrafen für Jugendliche erzieherische Hilfen und Maßnahmen zur Resozialisation treten müssten. Ferner forderte die Kommission eine psychologische und pädagogische Zusatzqualifikation für Jugendrichter. In der Kritik am Jugendstrafvollzug hieß es: „Ein kurzer oder längerer, inhaltsleerer Freiheitsentzug kann dem Jugendlichen nur beweisen, dass die Gesellschaft das sanktionierte Verhalten missbilligt. Sonst kann die Maßnahme bestenfalls Strafangst hervorrufen. Nicht selten bewirkt sie aber im Gegenteil Protest, Auflehnung und antisoziale Solidarität.“ [3] Dass Erziehung und Therapie an die Stelle von Strafen treten sollten, war ein utopischer Gedanke, der zwar in der Fachpresse und auf Tagungen lebhaft diskutiert, aber bis heute nicht umgesetzt wurde.
Dies war nur ein kleiner, beispielhafter Ausschnitt aus der Arbeit des Verbandes. Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die Bedeutung der Arbeiterwohlfahrt heute eingehen.
Blicken wir auf die Entwicklung seit 1945 zurück, so stellen wir fest, dass sich aus den bescheidenen Anfängen wieder ein bedeutender Wohlfahrtsverband entwickelt hat, dem ca. 4500 Ortsvereine, 450 Kreisverbände und 29 Landes- und Bezirksverbände angehören. Die Arbeiterwohlfahrt wird bundesweit getragen von:
Als Mitgliedsverband hat die AWO inzwischen 430.000 Mitglieder. Sie unterhält 10.000 Einrichtungen mit etwa 146.000 Beschäftigten, 4500 Zivildienstleistungen . Anzahl der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen beträgt ca. 100.000. Die Arbeiterwohlfahrt unterhält Heime, Beratungsstellen, ambulante Dienste, Tageseinrichtungen. Ihr haben sich auch etwa 3400 Selbsthilfegruppen und andere Gruppen bürgerschaftlichen Engagements angeschlossen, mehr als 800 selbständige Einrichtungen sind korporative Mitglieder Arbeiterwohlfahrt.
Nach wie vor hat die Arbeiterwohlfahrt ihre Wurzeln in der sozialdemokratischen Partei, aber die Beziehungen scheinen gelockert. Es ist heute nicht mehr selbstverständlich, dass die Mitglieder der Partei auch der Arbeiterwohlfahrt beitreten und daher erscheint mir die Mahnung, die Heinrich Schulz 1919 ausgesprochen hat, dass sich die Parteimitglieder stärker mit Wohlfahrtsfragen auseinandersetzen sollten, recht aktuell.
1998 hat die Arbeiterwohlfahrt ihre heute gültigen Leitsätze, an denen ihr Handeln ausgerichtet ist verabschiedet. Ihre vier zentralen Grundwerte sind Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Toleranz. Es gehört zu ihren Zielen,
demokratischen Denken und Handeln zu fördern,
Menschen dabei zu unterstützen, ihr Leben eigenständig und verantwortlich zu gestalten,
alternative Lebenskonzepte zu fördern;
Solidarität zu praktizieren und die Verantwortung der Menschen für die Gemeinschaft zu stärken und
soziale Dienstleistungen mit hoher Qualität für alle anzubieten.
Ich möchte meine Ausführungen mit einigen Sätzen aus der Rede von Willi Brandt schließen, die er 1969 zum 50-jährigen Jubiläum der Arbeiterwohlfahrt gehalten hat:
„Die Mitarbeit in (Wohlfahrts) Organisationen ist nicht einfach. Es ist harter Einsatz in Bereichen unserer gesellschaftlichen Ordnung, auf die mehr Schatten als Licht fällt. … Bert Brecht hat es gesehen und gesagt: Die im Dunkeln sieht man nicht. Die im Dunkeln, das sind jene, die auf Hilfe angewiesen sind. Das sind bei uns aber auch alle, die helfen. Sie erwarten keine großen Worte, keinen wortreichen Dank. Aber jeder muss wissen: Ohne die Mitarbeit dieser Menschen, gäbe es noch mehr Bitterkeit und Not in unserem Lande.“ Und so gilt heute unser Dank allen, die hier in Kronberg mit und für die Arbeiterwohlfahrt wirken.
[1] Neues Beginnen. 1949: Aus dem Geschäftsbericht. A. a. O. S.53
[2] 25 Jahre Arbeiterwohlfahrt, Ortsverein Kronberg / Schönberg Ts.
[3] Arbeiterwohlfahrt (Jugendrechtskommission: Vorschläge für ein erweitertes Jugendhilferecht. In: B. Simonsohn 1970, S. 318 f
[1] [1] 1919 – Die Gründung. Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Parteiausschusses der SPD vom 13. Dezember 1919 in Berlin. In: Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. (Hrsg.): Helfen und Gestalten. Bonn 1992, S. 12
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